"ΤΩΙ ΚΡΑΤΙΣΤΩΙ"
-Alexander der Grosse
"...setzen wir unsere Live-Übertragung fort, hier aus Athen, wo zehntausende von Menschen auf die Strassen strömen. Die Flaggen wehen auf Halbmast zu Ehren des zweifellos grössten Nationalhelden, den dieses Land in den vergangenen Jahrzehnten hervorgebracht hat."
"Ganz recht, Brian. Griechenland ist vereint in seiner Trauer, doch die ganze Welt nimmt Anteilnahme und noch immer treffen Kondolenzschreiben ein aus allen Himmelsrichtungen, wie zuletzt jenes von US-Präsidentin Chelsea Clinton."
"Und jetzt sehen wir, wie der Trauerzug mit dem Sarg von Khristos den Syntagma-Platz erreicht. Das gesamte Parlament hat sich vor dem Regierungsgebäude versammelt um ihrem Landsmann Respekt zu erweisen. Eine Woche lang herrscht Staatstrauer, dann wird sich die Regierung von Athen wieder mit ihrem finanziellen Hilfspaket für China beschäftigen müssen."
"Ein kurzes Wort zu den Sargträgern, Brian."
"Oh ja."
"Wir sehen hier in der ersten Reihe Taso Parapopulos, das prominenteste von Khristos' vielen, vielen Kindern. Er war zuletzt massgeblich an den vielen Projekten seines Vaters beteiligt, unter anderem natürlich der weltbekannten Pankration-Akademie und der Universität der Künste von Thessaloniki. Gewiss wird er das ruhmreiche Erbe seines Vaters gewissenhaft fortführen, auch mit Hilfe seiner eigenen beiden Söhne..."
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New York City, 17. September 2021.
Der prächtige Garten auf dem Dach des Rockefeller Plaza Gebäudes steht in voller Blüte. Zahlreich sind die Gäste erschienen, unter anderem auch die prominenten Schwestern der Braut. Und während die eindrücklichen Eisskulpturen unter der angenehmen Herbstsonne langsam zu glänzen beginnen, kommt der Standesbeamte zu den entscheidenden Worten.
"...und möchtest du, Cherry Juniper Olsen Taso Parapopulos als deinen dir angetrauter Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren, bis das der Tod euch scheidet, dann beantworte das mit einem aufrichtigen 'Ja'."
Die Antwort und der anschliessende Kuss lässt die Gemeinschaft applaudieren, auch Khristos, der in der ersten Reihe zwischen seiner Tochter Helena und seiner rechten Hand Nestor Platz genommen hat.
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Athen, 2. Juni 2055.
"...trägt neben Taso der griechische Ministerpräsident Aidos Goulakis. Seines Zeichens übrigens auch Sohn von Khristos' ehemaligem Vertrauten Nestor Goulakis."
"Auch ihm steht der grosse Schmerz ins Gesicht geschrieben. Hinter Taso dann ein ebenfalls nicht unbekanntes Gesicht: Tristan Liebling, das ehemalige Topmodel aus Dänemark und heute UN-Generalsekretär."
"Übrigens auch vormalig ein Pro-Wrestler, dessen Weg sich ebenfalls mit jenem von Khristos gekreuzt hat."
"So ist es. Kaum ein Leben, das nicht von diesem grossen, grossen Mann berührt wurde."
"Denken wir nur an all die vielen Menschen, die gerettet sind, seit 2033 im Garten von Khristos' Residenz auf Oxia das endgültige Heilmittel gegen Krebs entdeckt wurde."
"So ist es. Mit der Aufzucht der Euphorbia Khristae ist dem begeisterten Naturforscher sein wohl wertvollster Beitrag auf dem Gebiet der Medizin gelungen. Doch vergessen wir auch nicht..."
"...sein politisches Gewicht? Nein, auf keinen Fall! Der Mann neben Tristan Liebling kann das wohl bestätigen wie kein zweiter. Amos Ben-Gavriêl, als junger Mann trainierte er als Gast in der Pankration-Schule von Khristos. Später war er einer jener Männer, der die Friedensverträge von Oxia unterzeichnete, welche den dauerhaften Frieden zwischen Israel und dem Iran sicherten."
"Und damit sind wir auch schon im 23. Jahr der harmonischen Beziehungen im gesamten Nahen Osten."
"Sowie seinen westlichen Partnern, Brian. Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass während diesen acht Verhandlungstagen damals auf Oxia die Schienen der Weltgeschichte auf neue, blühende Wege ausgerichtet wurden und bestimmt hatte auch der Gastgeber mit seinem Vermittlungsgeschick erheblichen Anteil daran."
"Und gewiss wird auch nach dem Tod von Khristos in den Hallen von Oxia weiterhin Grosses entstehen..."
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Cannes, 27. Mai 2026.
Eben noch donnerte Applaus durch den Kinosaal, als der Abspann zu "Greco", dem Dokumentarfilm über Khristos' bisheriges Lebenswerk, über die grosse Leinwand rollte. Hier aber, im Krankenhauswartesaal herrscht gespannte Stille. Man hatte gehofft, die junge Frau würde es noch bis nach Griechenland schaffen. Doch dann ging alles plötzlich schnell. Nervös geht Nestor auf und ab, Khristos dagegen sitzt mit starrem Blick und ruhigem Atem an die Wand gelehnt.
"Soll ich vielleicht nochmals eine der Pflegerinnen..."
Noch bevor Nestor den Satz zu Ende sprechen kann, schwingt die Türe auf und Taso tritt mit einem kleinen Bündel in den Raum.
"Hier ist er. Hier ist...Cristu."
Entzückt schlägt Nestor die Hände über dem Kopf zusammen, als Taso seinem Vater dessen ersten Enkelsohn in die Arme legt. Die schwarzen Augen des alten Mannes blicken sanft in die stahlblauen Babyglubscher, seelenruhig windet sich der kleine Körper im flauschigen Tuch. Langsam streckt sich die kleine Hand aus und umgreift den mächtigen Finger von Khristos.
"Hinreissend! Er ist hinreissend!"
Spricht Nestor und füllt dabei drei kleine Gläser zur Feier. Dazu erhebt sich auch Khristos, den Enkel im Arm, das Glas in der anderen Hand.
"στην υγειά μας!"
Die drei Männer stürzen ihr Getränk in einem Zug hinab. Wortlos bleiben sie noch lange im Raum stehen und staunen über das neue Leben vor ihnen.
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Athen, 2. Juni 2055.
"Langsam kommt der Trauerzug voran. Tausende versuchen, nach dem in einer griechischen Flagge eingewickelten Sarg zu berühren. Kaum jemand, dessen Tränen heute nicht in den Strassen von Athen versickern."
"Förmlich durchgeschüttelt von Trauer und Schmerz werden viele Landsleute, sowie die vielen internationalen Gäste. Dutzende von Regierungen haben ihre Vertreter geschickt. Hier sehen wir beispielsweise den US-Vizepräsidenten und die Aussenministerin von Nordkorea, gemeinsam legen sie eine Rose auf den vorbeiziehenden Sarg."
"Oh, und hier sehen wir den achtfachen Oscar-Gewinner Zac Efron. Bekanntermassen gewann er seinen sechsten Academy Award für seine Hauptrolle im Khristos-Biopic 'The Great Greek'."
"Der wahrscheinlich grösste Schauspieler seiner Generation, zweifellos."
"Absolut."
"Alle nehmen sie Abschied von ihrem Helden, Idol, ihrer Inspiration, ihrem Superstar. Einem Mann, der bereits zu Lebzeiten ein Mythos geworden ist. Ein Mann, der berühmt wurde als einer der grössten Kampfsportler aller Zeiten und doch so viel mehr noch gewesen ist."
"Denken wir nur an seine beeindruckenden Worte, die er als ältester Mann, der je den Mond betreten hat, aussprach."
"Wem sagst du das, ich habe sie in meinem Ehegelübde zitiert."
"Und so ist es tröstlich zu wissen, dass der Schmerz, den Khristos mit seinem Tod heute hier zurücklässt, schon sehr bald wieder von seinem wahren Erbe überstrahlt wird."
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Syros, 4. November 2043.
Der dünne Vorhang wird von einer Meeresbrise umspielt und lässt dabei einige der letzten Sonnenstrahlen des Jahres in das kleine, schmucklose Schlafzimmer. Es ist ein bescheidenes, aber bildhübsches Haus, in dem Nestor gemeinsam mit seiner Familie die letzten Jahre verbracht hat. Jeder Atemzug des betagten Griechen ist zu hören und zunächst bemerkt er es gar nicht, wie die Tür sich öffnet. Doch dann, als sich sein müder Blick zur Seite neigt, blitzt er kurz auf wie zu alten Zeiten.
"Du...du hast es doch noch geschafft..."
Khristos, selbst nach all den Jahren eine mächtige Erscheinung, wenn auch mittlerweile mit mehr grauen als schwarzen Haaren im Bart und auf dem Haupt, setzt sich an den Bettrand und greift nach der fragilen Hand von Nestor.
"Nichts wäre mir wichtiger, mein alter Freund."
"Wie...geht es den Kindern?"
"Bestens. Wir spielen jeden Tag. Thalassa ist nun alt genug, dass sie mit mir trainieren darf. Sie hat schon jetzt ganz vorzügliche Kraft in ihren Griffen und Tritten."
"Wer...hätte das gedacht...bereits die dritte Generation..."
Nestor blickt nun wieder zur Decke. Das einstige Sprachrohr von Khristos ringt mit jedem Wort.
"Ich...ich wünschte nur, wir hätten diesen Weg gemeinsam bis ganz zum Schluss gehen können. Ich...ich habe immer versucht, mit dir Schritt zu halten..."
"Du hast immer direkt neben mir gestanden, alter Freund. So wie du auch jetzt an meiner Seite bist."
"Es...es war eine so lange Reise..."
"Und sie hat sich gelohnt. Gemeinsam werden wir eine bessere Welt hinterlassen. Dafür danke ich dir. Dankt dir unser Land, seine Leute, alle."
"Es...anstrengend...es war sehr anstrengend...aber...schön...es..."
"Du hast es verdient, jetzt etwas zu schlafen."
Nestor nickt. Langsam schliessen sich seine feuchten Augen.
"...etwas...etwas schlafen. Danke...dass du gekommen bist."
Noch weit in die Nacht hinein blickt Khristos auf den treusten seiner Weggefährten, lauscht dem entfernten Meer und Nestors langsamem Atem. Bis irgendwann nur noch der Ozean zu hören ist.
"Danke, dass du da warst."
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Athen, 2. Juni 2055.
"Der Trauerzug kommt langsam seinem Ziel entgegen."
"So ist es. Der Sarg wird dann im Hafen von Piräus verladen und auf Oxia überfrachtet, wo Khristos seine letzte Ruhe finden soll."
"Die letzten Meter gehen vorbei an den zahlreichen Söhnen, Töchtern, Enkel- und Urenkelkindern."
"Cherry Olsen schliesst sich nun ihrem Ehemann an, hinter dem Sarg ziehen noch immer unzählige Menschen her, immer wieder werden Blumen geworfen, auch das Hafenbecken ist schier gänzlich rot dank all den schwimmenden Rosenblättern."
"Ein schöner, ein trauriger Anblick. Als letzte Person am Schiffssteg wartet Helena Parapopulos, Tochter von Khristos und letztes Jahr bekanntermassen ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Literatur..."
"...und meines Wissens eines der wenigen Kinder von Khristos, das nie geheiratet oder Nachwuchs bekommen hat."
"So ist es. Wie hinreissend sie auch jetzt noch in einer Stunde wie dieser aussieht. Helena legt ebenfalls eine letzte Blume auf den Sarg, küsst ihren Bruder auf die Wange und gibt dann den Weg frei, auf das der grosse Khristos seine letzte Fahrt antreten kann."
"Und was war es nur für ein Weg, den ihn dazu hergeführt hat."
"Zweifellos. Diese Welt wird so schnell nicht mehr eine Persönlichkeit wie jene von Khristos erleben. Behalten wir ihn deshalb...in...Er-erinnerung...und ver-vergessen nicht..."
"Brauchst du ein Taschentuch?"
"Ja, bitte!"
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Oxia, 29. Mai 2055.
Es ist sein Lieblingsplatz, hier auf der Insel, auf der ganzen Welt. Umgeben von Blumen und Bäumen, am Rand vom steilen Abgrund, der die kleine Insel Oxia von den tosenden Meereswellen abgrenzt. Hier sitzt Khristos, eingewickelt in ein weisses Tuch, behangen mit schwerem Gold, auf einem toten Baumstamm und wartet auf den Sonnenaufgang. Seit einigen Wochen ist er nun nicht mehr verreist, ist zum ersten Mal überhaupt zur Ruhe gekommen. In der Villa schlafen sie noch, Familie und Bedienstete. In den vergangenen Tagen haben sie den Geburtstag von Cristu gefeiert. 29 Jahre alt ist er geworden, bereits Vater von eigenen Kindern. Ein formidables Fest liess Khristos zu dem Anlass veranstalten. Kein Gesicht, das nicht den ganzen Tag lang gelächelt hätte.
Zufrieden nimmt der alte Grieche das erste Glühen wahr, das sich nun langsam über den Meeresrand empor schiebt. Blumenduft und salziger Wind mischen sich in seiner Nase. Zwischen seinen Fingern mahlt Khristos etwas Erde und Gras vom Boden seiner Insel, so wie er es jeden Morgen tut. Es wird ein weiterer perfekter Frühlingstag werden.
Der Sonnenball steht nun komplett über dem Ozean und wirft seine wärmenden Strahlen über Oxia. Mittlerweile ist auch Helena wach, sie trägt einen von Cristus kleinen Söhnen auf ihrem Arm und weiss, wo sie ihren Vater findet.
"Papa? Das Frühstück ist bald fertig. Kommst du?"
Schritt um Schritt nähert sie sich der stillen Silouette von Khristos.
"Papa?"
Schliesslich ist sie bei ihm angekommen und blickt auf sein Gesicht, das friedlich und starr über das Meer und in die Sonne blickt.
"Papa...?"
Helena setzt sich neben ihren Vater und nimmt seine Hand. Erde und Gras fallen zurück auf den Boden und ihr ist klar, das er sie nicht mehr hören kann. Sie versucht zu lächeln, als die ersten Tränen ihre Wangen hinabrinnen. Das Baby auf ihrem Arm streckt die Finger aus und wischt einige davon eher zufällig ab. Zögerlich streichelt Helena über die gebräunte Haut und das zottelige Haar ihres Vaters. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter und teilt seinen letzten, majestätischen Anblick.
"Αστερι της ζωης μου. Καλό ταξίδι."
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